Zu den Bildern von Karl-Karol Chrobok
Anläßlich der Ausstellungseröffnung am 8. ıo. 1997 in der Commerzbank
Stuttgart Bad Canstatt

Einige der Bilder von Karl-Karol Chrobok tragen den Titel "Labyrinthpilger". Es spielt keine Rolle, ob in dieser Ausstellung eines davon zu sehen ist oder nicht - denn viele, sehr viele von Chroboks Bildern könnten so heißen. Ein Labyrinth-Pilger ist ein Paradoxon. Eine Pilgerfahrt ohne Kenntnis des Zieles - der Pilgerstätte - und ohne Kenntnis des Weges ist undenkbar.

Der Pilger kennt sein Ziel und er weiß den Weg - es ist der Weg, den tausende andere Pilger  gingen und gehen. Es ist ein sozusagen ausgetretener Pfad. Der Weg ist Teil eines Rituals - Einstimmung, Vorbereitung, Besinnung auf das hohe Ziel, inszenierte Mühe zur Erlangung einer demütigen Bereitschaft - nicht selten werden die letzten Meter auf Knien rutschend zurückgelegt. Reinigung, Buße, Erhörung, Vergebung, Erleuchtung, das sind die Begriffe, die mit der Pilgeıfahrt assoziierbar sind. Ganz Gegenteiliges verbindet sich mit dem Labyrinth: Als raffinierte Architektur von Irrwegen ist es fürs Verbergen und Verwirren angelegt. Die kultivierte Gartenheckenanlage als lustbare Spielwiese höfischer Gesellschaften, das begehbare Wabengebilde aus Spiegeln und Glas auf dem Jahrmarkt als wohlfeile Belustigung vor allem für die draußenstehenden Beobachter des ungefährlichen Darin- Herumtappens und Gegen-Gläser-Stoßens, oder die weniger unterhaltsamen Labyrínthe um geheime kultische Zentren und Schatzkammern, die den wagemutigen Eindringling in Verzweiflung und Tod führen... - immer bleibt der Weg zu einem Ziel - sei's das geheime Herz oder der wiederzufindende Ausgang - unbekannt und unberechenbar - mag das Ziel auch noch so nah sein. Kreisläufe und blinde Gänge und vor allem jedes Fehlen unterscheidbarer, markanter Stellen, an denen wenigstens die fehlgegangenen Richtungsentscheide festgemacht und gemerkt werden könnten, machen die Orientierung unmöglich und führen den Suchenden eins ums andere Mal auf den selben Abschnitt. Und der Weg - physikalisch vielleicht eine maßvolle Strecke - wird länger und länger und endlos.
Mit den Worten Pilger und Labyrinth werden zwei Welten zusammengezwungen, die ferner zueinander nicht sein könnten. Hier ist der auf das ferne Ziel ausgerichtete, raumgreifende und abwechslungs- und ausblickreiche Weg, der ruhig angegangen wird - sind Rhythmus, Gleichmaß im Atem, Gleichmaß im Schritt, freudige Hinnahme von Mühen und Strapazen, das auf ein klares Ziel gerichtete Auge und vor allem: der Wert des Transzendenten, des Religiösen, der Glaube, die Hoffnung, eine Art Gewißheit!

Dort sind Spiel und Zeitvertreib, erotisch aufgeladenes Lachen und Necken oder aber ist das von immergleichen Begrenzungen und Versperrungen gespiegeltes kaltes Echo, sind gehetzter Atem, Laufen, Straucheln, Fluchen, Schreien, der Wahn im Wissen um ein nahes, aber unauffindbares Ziel- und vor allem (hat nicht der sich im Labyrinth Verfangene ganz diesseitige Werte zu erobern im Schilde geführt? ) vor allem Schein und Verzweiflung.
Mit dieser polarisierenden Beleuchtung des Wortgebildes "Labyrinthpilger" ist natürlich schon eine halbe Interpretation des Bildtitels und des Bildes vollzogen. Labyrinth und Pilger sind zu Modellen geworden - zu Lebensmodellen. Die Vollendung dieser unvollständigen interpretation soll hier aber nicht geleistet werden - zu vielfältig ist der mögliche Umgang mit den Modellen und soll es bleiben, damit der Bild-Betrachter gemäß seiner individuellen Neigung und Fähigkeit die Analogien bilde, die er zu bilden gewillt und in der Lage ist. Der Grund für die Behauptung, der Titel "Labyrinthpilger" passe auf viele der Bilder Karl-Karol Chroboks läßt sich dennoch sagen:
Karl Chrobok, der eigentlich Karol Chrobok heißt, oder Karol Chrobok, der eigentlich Karl Chrobok heißt, verbindet mit seinen Linien und Farben zwei disparate Momente, zwei scheinbar konträre Weltaspekte, wie er die polnische Version seines Vornamens mit der deutschen verbindet: indem er sie gleichwertig und offensichtlich aneinanderfügt, - und er rettet sich selbst vor einer schizoiden Spaltung, ohne dem Trugschluß der Möglichkeit der völligen Versöhnung unterschiedlicher Welten aufzusitzen und er rettet den Betrachter seiner Bilder vor jeder moralischen Konfrontation, ohne ihm die Chance zu einer tiefsinnigen Deutung zu verwehren, indem er mit einer spielefischen Poesie, mit einer puppenspielerischen Geste, jene Distanz erzeugt, jene Vogelperspektive, die das Tragische und das Komische zu einem sinnfälligen kartografischen Gefüge werden läßt.

2.
In der Tat läßt sich auf die Bilder Karl-Karol Chroboks von oben schauen, wie sich von oben auf ein Labyrinth schauen läßt. Dadurch wird der Genuß ermöglicht, dem bisweilen hochkomplexen Bauplan ohne Verwirrung auf die Spur zu kommen. Die Architektur des Labyrinths läßt sich nur von erhöhter Warte erkennen und analysieren. Ein mögliches Ergebnis der Analyse hier wäre: Die Architektur der Bilder Chroboks basiert auf einer doppelten Erhöhung!
Die erste:
Der Maler oder Zeichner erhöht seinen Betrachtungsstandpunkt und schaut auf die Dinge und Themen, die ihn aus dem Leben heraus angehen, aus dieser eıhöhten Warte; er sieht von dort aus - im eigentlichen Sinne gleichgültig - den Stoff ausgebreitet als Erscheinungen von Farbe und Struktur, von Rhythmen und Ornamenten und er überträgt sie, gleichsam als gleichwertige Zeichen, auf Leinwand und Papier.
Die folgende zweite:
Indem dieser Vorgang ganz offenkundig vollzogen wird, ohne jede mysteriöse oder intellektuelle Verbrämung, wird der Bild-Betrachter auf eine nochmals erhöhte Warte gestellt, von der aus er auf das Verfahren des Malers, auf seine Technik schauen kann, die, wie gesagt, an sich schon eine Technik der erhöhten Warte ist, und sieht durch diese Technik hindurch auf den Stoff.


3.
ln den Bildern Karl-Karol Chroboks sind die Widersprüche gegenstandslos geworden, oder, besser gesagt, sie sind in den Bildern aufgelöst. Der exemplarische Widerspruch von Pilgerschaft und Labyrinth ebenso wie die meist als widersprüchlich empfundenen Dualismen Spiel und Ernst, Gut und Böse, Liebe und Haß, Trauer und Freude, Glück und Verzweiflung, Friedfertigkeit und Gewalt, Leben und Tod... und aufgelöst ist auch der scheinbare Widerspruch von Gegenständlichkeit und Abstraktion.
Aufgelöst ist jede Richtung. Das Bild scheint gleichermaßen in seiner Gänze gedacht und dann iunterteilt worden in seine Bauteile, die bisweilen wiederum bis in die kleinsten Zellen zergliedert sind - wie auch aus seinen Atomen und Molekülen, den Zellkernen, Zellen und Zellengebilden aufgebaut worden, bis es sich endlich in seiner Gänze zeigt. Das gegenständliche Bild und das abstrakte sind gleichermaßen jenem Struktursystem unterworfen, das scheinbar nur an der kompositorischen Verwendbarkeit von Formen interessiert ist.
Das der Natur entlehnte Motiv hat sich so weit von seinem ursprünglichen Bau verabschiedet, bis es zusammen mit den freien und ornamentalen Gebilden wie Kreuz und Kreis, Dreieck, Quadrat und anderen den Kanon gleichwertiger Bausteine ergeben kann.


4.
Die Kunst von Kari-Karol Chrobok kennt natürlich Verwandtschaften. Eine, die immer wieder spürbar wird, ist die zu Paul Klee. Daß sie mehr als eine formale Angelegenheit sein muß, wird sich im Laufe dieser Zeilen noch zeigen.
Desweiteren sind Ähnlichkeiten zu den Malern der Gruppe Cobra zu sehen (zu Asger lorn, Karel Appel, Constant und Corneilie, Christian Dotremont und Joseph Noiret). - - - Bei der Arbeit an diesem Text bin ich auf einige Zitate aus dieser Gruppe gestoßen, von denen ich zwei, da ich sie so verblüffend passend fand - als Konnotation wohlgemerkt, nicht als Erklärung der Chrobokschen Arbeit - hier einfügen möchte: "Was wir besitzen und was unsere Kraft darstellt, ist, daß das Leben uns Freude bereitet, ist, daß das Leben in all seinen amoralischen Erscheinungsformen unser Interesse erweckt. Dies ist auch, was das Fundament der Kunst heute darstellt. Wir kennen nicht einmal die Gesetzte der Ästhetik, und die alte Vorstellung von einer Wahl gemäß einem Prinzip des Schönen und des Häßlichen, entsprechend dem auf ethischer Ebene Edlen oder Tadelswerten, ist für uns gestorben, uns, denen das Schöne auch Häßlich ist, denen alles, was häßlich ist, auch Schönes besitzt..." (Asgerjorn). Und Christian Dotremont spricht von einem "Verlangen nach einer unteilbaren schöpferischen Kraft, die weder organisiert noch unorganisiert ist, in der Form und Inhalt, Zweck und Mittel, Häßlichkeit und Schönheit, Zeichnung und Farbe, subjektive Kräfte und Bezüge auf äußere Realitäten zusammenfinden - all dies Dualismen, mit denen sich die Kunst, zunächst die aristokratische und dann die bürgerliche, seit der Renaissance auseinandergesetzt hat."
Auch wenn diese Zitate nun schon historisch sind - sie datieren aus den 40er Jahren - sie erläutern noch immer eindringlich jenes gleichermaßen gewaltvolle wie poetische Denken, das nötig war, die ohnehin perforierten Grenzen der etablierten Kunst in diesem Jahrhundert vollends einzureißen, und den Zustrom aus gewaltigeren Quellen zuzulassen von denen jetzt noch die Rede sein soll. Es sind die nicht zu unterschätzenden Einflüsse des Kindlichen, des Naiven, des Primitiven und des sogenannten geistig Kranken.
In den bildnerischen Arbeiten dieser Gruppierungen flndet man eine kühne Erfindungs- und Verbindungskraft und eine immer wieder verblüffende Stilsicherheit, die innerhalb eines Bildes allen Teilen, den Haupt- wie den Nebenteilen, die gleiche Aufmerksamkeit, die gleiche Sorgfalt und die gleiche Sorglosigkeit angedeihen läßt. Was bei der Betrachtung dieser Arbeiten immer wieder fasziniert, ist ihre in höchstem Maße autonome Struktur, die geradezu unverschämt direkte Hinwendung zu allem, was den Urheber angeht- alltägliche Dinge und Sachverhalte, Visionen und Erfindungen, Ängste, Träume und Obsessionen, sexuelle, religiöse und profane Aspekte, all das wird direkt und ohne Umschweife und vor allem in einer in sich stimmigen und deshalb überzeugenden Sprache vorgestellt- unabhängig von Fragen des Geschmacks oder des künstlerischen und gesellschaftlichen Stellenwertes.
Die enorme Ausdruckskraft dieses Unmittelbaren hat viele ausgebildete Künstler fasziniert und sie veranlaßt, eine Technik zu entwickeln, die jene Kraft mit dem eigenen Wissen und Bewußtsein verbindbar werden ließ.

5.
Auch in den Bildern von Karl-Karol Chrobok finden sich Ergebnisse einer solchen Verbindung des akademisch Ausgebildeten und künstlerisch Erfahrenen mit dem Naiven. Seine Reduzierung des Figürlichen auf knappe, leicht wiedererkennbare Fomıen, auf Archetypen und ihre bisweilen stereotype Wiederholung, die bis zur Bildung von ornamentalen Teppichmustern gehen kann - allen Grund bis in die kleinsten Winkel bedeckend und zuwuchernd - sind solche Merkmale des Naiven. Dagegen steht - in völligem Einklang - die sichtbare Auseinandersetzung mit dem Farbauftrag per se.
Die unterschiedlichen Techniken und Verfahren des Bildaufbaus, das Einsetzen von Lasur oder deckendem Farbauftrag, im Extrem der aus der Tube direkt auf den Grund gequetschte delikat geschmeidige Farbstrang - oder das immer wieder partiell überarbeitete Bild, das noch lange nach seiner ersten Fertigstellung kompositionstechnischen Fragen und entsprechenden Änderungen unterworfen wird, die längst nicht mehr das Geringste mit dem Thema oder dem Motiv des Bildes, sondern nur noch mit den Problemen der Malerei zu tun haben - all das zeigt, daß auch das "Naive" eine gar nicht naive, sondern künstlerisch bewußt eingesetzte Technik ist, die natürlich einen Grund und ein Ziel hat.

6.
Es ist schon ausgeführt worden, wie Karl-Karol Chrobok es versteht, mittels seiner Technik des "gleichgültigen" Formenzusammenbaus auch das Heterogene zu einer Synthese zu bringen.
Es wurde von einer scheinbaren lnteresselosigkeit gegenüber dem "Motivweıt" gesprochen. Aber es ist ja durch aus nicht so, daß Chrobok wahllos teilnahmslos, grund und ziellos, jedwedes Motiv zu venwenden bereit wäre, als reines Spiel sozusagen. Allein die Titel in seinem Werkkatalog künden von einer relativ klar umrissenen Welt aus immer wiederkehrenden inhaltlichen Motiven.
Da ist der auf sich selbst geworfene Mensch als Kopf oder als "Nachtfigur" oder "Zusammengerollter Mensch", um nur zwei Titel zu nennen, da ist das große Motiv der Begegnung und Kommunikation - die Paare, die Verlobungen und die Versammlungen -, das große Motiv des Weges, der Reise, der Wanderschaft, die bis zur Flucht reichen kann und bis zur Erreichung der Märchenwelten, und da ist das große Motiv des Todes als der Fortsetzung des Reisemotives. Die Motive bilden, wenn man will, in sich selbst einen großen Kreis - Ich sehe eigenmächtig "eine glückliche Reise eines Malers" und "eine Bootsreise im All" als eine Fortsetzung der Reise nach dem Tod und den früher häufiger vorkommenden "zusammengerollten Menschen" als Kreisschluß aus Grab und Uterus.
Eigenmächtig wie gesagt.
Und nun ist klar, warum Paul Klee mir immer wieder in den Sinn gekommen ist. Auch Klee hat seine spielerisch Formensprache dazu genutzt, von ganz existentiellen und ersten Dingen zu sprechen. Karl-Karol Chrobok weiß, daß es heute nicht mehr möglich ist, von den großen Themen zu sprechen, ohne in die Gefahr zu geraten, pathetisch, didaktisch oder moralisch zu werden. Er entkommt dieser Gefahr indem er leichtfüßig auf seinen Malerhochsitz klettert und von dort seine Formen und Figuren wie ein Puppenspieler auftreten läßt.

Und in diesem Spiel trägt - wer weiß - der Tod das Kostüm des Malers, der Maler das des Königs, und über aller inszenierten Verwechslung und skurrilen Verwandlung triumphiert das heiter-stille Wissen von einer höheren Weisheit und...
der Pilger im Labyrinth lächelt.


Jürgen Palmer