ZUR MALEREI VON KARL CHROBOK

EINFÜHRUNGSREDE VON GEORG HOPPENSTEDT,
INSTITUT FÜR HUMANGENETIK, GÖTTINGEN
5. FEBRUAR 1995

Wenn uns hier an diesem Ort der Wissenschaft Kunst begegnet, ist es vielleicht nicht ohne Reiz, den kleinen Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ins Visier zu nehmen, jeden­falls ansatzweise.

ich bin nun kein Wissenschaftler, auch kein Kunstwissenschaft­ler, sondern ein Künstler, der gelegentlich über die Möglich­keiten und Grenzen seines Mediums reflektiert.

Ich möchte eine indirekte Einführung in die hier gezeigte Kunst versuchen, indem ich einige Gedanken zur Kunstrezeption vorstelle.

Ich möchte Sie gleich mit einer These konfrontieren:

Kunst ist nicht allgemeingültig interpretierbar, weil sie mit Gefühlen und Empfindungen zu tun hat, die von den persönlichen Erlebnissen geprägt sind. Kunst wird immer eine stark subjek­tive Basis aufweisen. Und so sollte auch die Rezeption auf der persönlichen Auseinandersetzung aufbauen und der Rezipient nicht gleich nach dem Schlüssel fragen, nach Erklärungen von außen.

Die Subjektivität wird schon vom Künstler ins Spiel gebracht. Anders als der Wissenschaftler, der erst Fakten sammelt, nach Gesetzmäßigkeiten sucht, nach Wiederholbarkeit und Objektivierbarkeit seiner Untersuchungen strebt, ist der Künstler ge­radezu darauf aus, Konventionen umzustoßen und etwas Einma­liges zu schaffen, er setzt auf Intuition und Zufall, statt auf berechenbare Größen.

Grob vereinfacht könnte man sagen, der Wissenschaftler bemüht sich, seine Subjektivität auszuschalten, bei seinem Versuch, Erkenntnis über die Welt zu erhalten - der Künstler dagegen beschäftigt sich gerade mit seinen Empfindungen, um Aussagen über den Zustand der Welt zu machen.

Er schafft Deutungen aus seiner ganz subjektiven Position her­aus. Hier kommt hinzu, dass der Künstler in der Regel stärker aus dem Gefühlsbereich heraus gestaltet, die Ratio meist erst als Instanz der Ergebnisüberprüfung eingeschaltet wird.

So kann es denn beim Betrachter eigentlich auch nicht anders ablaufen, als dass er erstmal mit seinen Gefühlen reagiert – und dann versucht, seine Empfindungen zu deuten, Vergleiche zu Erlebnissen und Erfahrungen zieht, Bezüge herzustellen ver­sucht.

Nun eine weitere These:

Kunst ist ein Diskurs, d.h. sie fordert ihn, - wenn man nicht gerade die Augen verschließt, oder es bei seiner Gefühlsbewegung belässt, ohne weiter darüber reflektieren zu wollen.

Ein Kunstwerk, - jedenfalls die herkömmlichen Formen des Bild­werks, sei es Plastik oder Gemälde, hat den Charakter eines Blocks. Alles ist zu einem Ganzen zusammengeschweißt. Alles, was hineingegeben wurde, wird uns nicht in den Einzelschritten vorgeführt, es ist ein kompakter Block, der uns gegenübersteht und der zerlegt werden muss, um ihn verdauen zu können.

Das Kunstwerk fordert somit Aktivität vom Betrachter. Aber da es nicht wie ein Puzzle aus festen definierten teilen zusam­mengesetzt ist, die man nur in der richtigen Weise wieder zu­sammensetzen müsste, sondern, - da es aus den subjektiv begrif­fenen Elementen eines Künstlers, eines starken Individualisten stammt, ist es nahezu unmöglich, dies Werk so zu rekonstruie­ren, wie es der Künstler gemeint hat, falls der sich überhaupt selbst über alles so ganz im Klaren war.

Es kann also gar nicht darum gehen, eine möglichst genaue Übertragung, wie der Wissensvermittlung, erreichen zu wollen. Es geht vielmehr darum, dass Emotionen ausgelöst werden und wir in einen Reflexionsprozess darüber geraten, dass wir in uns nach vergleichbaren Momenten, Erlebnissen und Erfahrungen suchen.

Eine letzte These:

Ein Kunstwerk entsteht in jedem Betrachter neu und zwar so weit, wie er es aktivieren kann - mit Leben, mit seinem Erleb­ten, seinen Gedanken füllen kann.

Kunst kann dabei wie ein Katalysator wirken und auch neue Er­kenntnisse über sich selbst ermöglichen. Kunstwerke wachsen mit uns, so kann es geschehen, das wir in einem Bild, das wir seit Jahren täglich gesehen haben, plötzlich etwas Neues ent­decken, für das wir erst reif werden mussten.

Eine gute Möglichkeit, sich Bilder weiter zu erobern ist, seine Eindrücke und Gedanken jemandem anderen mitzuteilen. Es entsteht dabei das Problem, dass wir etwas aus dem Bereich der Sinne und der Gefühle in unsere begriffliche Sprache überset­zen müssen, was nicht annähernd zu erreichen ist, aber dieser Prozess schafft Reibung, fordert noch einmal ein starkes Bemühen, sich über Zusammenhänge klar zu werden. Schließlich kommt dann im Gedankenaustausch auch die Aufnahme anderer Er­fahrungen hinzu.

Als Bereicherung der Erfahrungen sollte man dann auch das Aufnehmen von Theorien, Texten und Erläuterungen von Spezialisten ansehen, aber dies sollte nicht am Anfang einer Begegnung mit einem Kunstwerk stehen. Die Gefahr ist sehr groß, dass wir sonst nur noch durch fremde Augen sehen, uns keine eigenen Urteilsfähigkeit mehr zubilligen und leider ist das ein weit verbreiteter Zustand in der Rezeption moderner Kunst gewor­den. Kunst sollte als ein Diskurs aufgefasst werden. Wagen Sie es immer wieder, selbst Entdeckungen zu machen und den Gedanken­austausch mit anderen zu suchen, denn der ist wichtig, weil man sich manchmal selbst im Wege steht beim Hinsehen. - Und keine Angst vor Irrtümern oder Versagen, manchmal schließt sich ein Bild erst nach Jahren auf, es sind unsere eigenen Entwicklungen, die wir in Bildern finden.

Wenn ich jetzt einige Gedanken schildere, die bei mir entstan­den sind, als ich die Bilder von Karel Chrobok hier sah, dann sollte das nur als eine Möglichkeit der Deutung gesehen wer­den, als ein Anfang einer wünschenswerten Auseinandersetzung.

Frage ich nach meinen ersten Eindrücken, so fällt mir auf, dass es wenig dominante Elemente in den Bildern gibt, auffällig sind hauptsächlich die vielen Linien, dunkle und farbige - die Linien wirken, wie mit einem dicken Faden genäht, - will da jemand sein Leben zusammenhalten? Nebenbei bemerkt gibt es tatsächlich bei Karel Chrobok Bilder, in denen Fäden in den Linien auftauchen.

Immer wieder schlängeln sich die verschiedensten Linien durchs Bild, kreuzen sich, werden zu größeren Feldern, in denen wie­der Linien auftauchen usw., alles scheint eng miteinander ver­woben zu sein, der Vergleich mit einem Teppich drängt sich auf, aber ohne den dekorativen Aspekt, dazu sind die Einzel­formen nicht schön genug, zu unregelmäßig auch - es wirkt mehr, wie die Aufzeichnung von Lebenswegen, wie Spuren von Leuten, die nicht genau wissen, wo sie hin wollen, Suchenden also, so wie wir alle.

Steckt in der Malweise also schon die große Metapher?

Dann entdecke ich unter einem Bild den Titel "Pilger". Wie kommt der Pilger in unsere atheistische Zeit? Eine schmale Figur, wie ein Kegel geformt, mit einem kleinen Kopf, verkörpert sie, indem sie immer länger und schmaler wird, schon das immerwährende, geradezu ausgedehnte Sehnen nach einem Ziel! Ein Pilger sucht sein Seelenheil.

Auffällig ist an der Figur, dass der Pilger keine Arme hat, nicht den Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen will oder kann. - Und dann entdecke ich Bilder, in denen es vor Pilgern wimmelt - Pilger liegen, Pilger stehen, wie Kegel auf einer Kegelbahn. Ja, manche Pilger wirken wie aufgeschichtet. - die Metapher wird deutlich. Der Mensch von heute: Glückssucher, herumirrend in der Welt, immer auf der Suche, einsam, iso­liert, unfähig zu wirklichen Kontakten, und das ganze als Mas­senprodukt.

In der "Pilgerversammlung" wird es noch deutlicher, sie sind alle gleich, das fasst sie zusammen, aber vereint sie nicht. Ein Bild der Menschenexistenz, überall auf dieser Erde, das ewig fruchtlose Bemühen.

Das wäre eine Deutung, die etwas mit meiner persönlichen Welt­sicht zu tun hat, es gibt aber durchaus auch andere Assoziati­onsmöglichkeiten zu diesem Bild, z.B. könnte diese Kugel auch als Ei gesehen werden, und die Pilger als Samenfäden, oder man könnte diese abschnittartigen Streifen, die die Pilger aufwei­sen, mit Chromosomensätzen vergleichen, die Kugel mit einer Zelle - vielleicht trägt es uns zu weiteren Gedanken, viel­leicht ist es auch nur eine Verzierung meines ersten Gedan­kens. Genug, Sie sehen, ein Kunstwerk schafft Fragen, fordert geistige Bewegung.

Ich möchte Sie zum Schluss noch auf eine - vermutlich - zufäl­lige Konstellation in dieser Ausstellung hinweisen, die ich sehr reizvoll finde.

Eine Treppe höher hängt links vom Fenster ein Bild mit gelben Tönen und dunklen Linien, "Herbstliche Komposition" betitelt. Unterschiedlich große Flächen sind aufgeteilt durch Linien und zeichenhafte Formen, man kann in diesem Bild mit den Augen herumspazieren und sich ergötzen an den kleinen sensiblen Va­riationen der Grundformen - und dann wandert der Blick weiter zum Fenster, und siehe da, es geht weiter, gelbe Töne, dunk­lere Linien, Flächengefüge mit kleinen Variationen, wechseln­den Größen und Abständen niemals langweilig, aber ohne Sensa­tionen, liebevolle Blicke auf Details einer Architektur - ei­ner Architektur, die noch nicht der Monotonie verfallen ist, noch menschliche Züge hat. Ein kleiner empfindsamer Spazier­gang im Genuss der Nuancen.

Ich wünsche Ihnen, meine Damen und Herren, dass Sie in diese Bilder auf ihren eigenen Wegen herein finden können. Und ich wünsche Karel Chrobok an diesem letzten Tag seiner Ausstellung noch viel Resonanz für seine Bilder.